Dienstag, 23. Februar 2010

Aktuelles

Theodor Herzls hundertfünfzigster Geburtstag feiern – wer ist dagegen?

Von Roger Guth, meinem lieben Freund und Zionismusveteran seit der Vorkriegszeit, wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass Herzl dieses Jahr seinen 150. Geburtstag feiert. Ich gratuliere und möchte im weiteren Rogers eigene Worte verwenden, denn es ist wichtig gelegentlich den Begründer des politischen Zionismus in Erinnerung rufen.

Hier bitte Auszüge aus Roger Guths Brief:

"In Basel habe ich den Judenstaat gegründet" schrieb 1897 Theodor Herzl in sein Tagebuch. Derselbe Satz wurde zu dessen 100. Geburtstag auf einer Sonderseite der Basler National-Zeitung hervorgehoben, bekanntlich eine der beiden Vorgängerinnen der BAZ. Ein grosses internationales Publikum fand sich damals zur Feier eines Gedenktages an historischer Stätte in Basel ein. Der Regierungsrat von Basel-Stadt zeigte erneut seine volle Sympathie, wie schon 1897 und bei jedem der 9 weiteren in Basel abgehaltenen Zionisten-Kongresse. Als damaliger Präsident der 1897 gegründeten Zionistischen Vereinigung Basel war ich verantwortlich für die lokale Organisation der Festlichkeiten, die schriftlich vom damaligen ZWO-Präsidenten Zalman Shazar eingehend und persönlich verdankt wurden.

Aber da besteht doch wohl berechtigte Hoffnung, dass der 150. Geburtstag von Theodor Herzl zum Anlass genommen wird, um das positive Ergebnis seiner Vision und Aktivitäten zu beleuchten, jedenfalls manchenorts. Es bietet sich immerhin Gelegenheit zum Aufzeigen wie aus brachliegendem Wüstengebiet ein fruchtbares Land entstehen konnte, bereichert von einer wertvollen Industrie, die für ihre jüdischen und arabischen Einwohner Arbeitsplätze schuf. Ein Land, das endlich Ruhe für so viele bedeutete, die eine elende Zeitperiode überleben konnten.

Roger hat völlig recht, dieser Geburtstag muss von Zionisten in aller Welt und auch nichtjüdischen Freunden Israels wahrgenommen und gefeiert werden. Ich werde darauf noch zurückkommen und erwarte gewisse Festlichkeiten nicht nur in Israel, sondern auch durch die Schweizer SIG und deren Mitgliedgemeinden, der JLG und auch Freundschaftsverbänden wie die Gesellschaft Schweiz-Israel und ihren sympathischen Mitgliedern.

Tennis schadet dem Terrorismus

Das verdiente Ende eines Terroristen bringt die Welt in Wallung. In Dubai wurde eine Hamasgrösse von, nach Fotos zu beurteilen, Tennisspielern umgebracht. Doch statt sich darüber zu freuen, denn nun gibt es immerhin einen Judenhasser weniger, wird Israel angeklagt, nicht nur einen freundlichen Terroristen umgebracht, sondern dazu auch – und das wiegt tausendmal schwerer – gefälschte englische, deutsche, französische und andere Pässe benutzt zu haben. Vielleicht war es der Mossad, vielleicht aber hat ein anderer, ebenso brillanter Geheimdienst, diesen Dienst für die Menschheit vollbracht. Gott weiss es bestimmt, wird aber nichts verraten. Betroffen macht höchstens das Setzen der Prioritäten durch die Medien und die durch diese verursachte Aufregung, die mit der bisher unbewiesenen Anklage Israels für einen Akt der Schädlingsbekämpfung. Statt sich öffentlich zu freuen und meinetwegen den Ausführenden dieses Aktes zu gratulieren, lässt man sich wiederum zu einer unfreundlichen, durch Angst vor dem Jihadismus und seiner Brutalität motivierten unbewiesenen Anklage an Israel hinreissen. Man kann darüber streiten, ob solche Aktionen sinnvoll sind, aber um einen fanatischen Judenhasser und Judenmörder ist es nie schade. Auch sollte es nicht vorwiegend um Rache gehen, denn wenigsten vorläufig noch, gibt es für jeden aus dem Verkehr gezogenen Terroristen innert kurzer Zeit einen Nachfolger. Ausnahmen wie zum Beispiel dem Hisbollah-Mordgenie Imad Mughniyah oder dem üblen Rollstuhlfahrer Scheich Yassin sind leider nicht selten. Doch erstens ist es um diese Leute nicht schade und zweitens schadet es nicht, wenn sie wissen, dass man sie überall erwischen kann, sei es durch den Mossad oder einem Konkurrenzunternehmen.

Die Groteske

In Gaza herrsche Not, die Leute hätten nichts zu essen, die Infrastruktur sei kaputt und ähnliches ist zu hören und zu lesen. Die von der UNO und westlichen Ländern gespendeten Milliarden sind verschwunden, versickert im Wüstensand und bei Waffenhändlern – keiner will wissen wohin. Objektive Leute, die sich nicht von palästinensischen Propagandisten an der Nase herumführen lassen, kaufen diese, falls es sie gibt, selbstverursachte Not der Hamas nicht ab. Sogar dann nicht, wenn man ihnen sorgsam zu PR-Zwecken gepflegte offene Kanalisationen und ähnliches zeigt. Darum ist die Nachricht, dass Gazaner heute ihre Gelder in Israel investieren können nur eine Überraschung für blauäugige Gutmenschen, die das bestimmt und traditionell völlig uninformiert abstreiten werden.

Eine palästinensische Predigt (in Deutsch)

Mit diesem Link öffnen sie eine deutsche Übersetzung von Memri einer kürzlich gehaltenen Freitagspredigt in Palästina. Hier der Vorspann:

Offizielle Freitagspredigt der Palästinensischen Autonomiebehörde: ‚Die Juden sind die Feinde Allahs […] Unsere gegenseitige Feindschaft mit ihnen beruht mehr auf Glaubensfragen, als auf Angelegenheiten wie der Besatzung oder dem Land'; 'Der Prophet Mohammed sagte: Ihr werdet die Juden bekämpfen und ihr werdet sie töten'; 'Dieses Land wird nur durch den Dschihad befreit werden'

Obwohl der Konflikt zwischen den Palästinensern und Israel eigentlich ein Streit über Immobilien ist, besteht eben auch eine starke und wachsende religiöse Komponente – auf beiden Seiten. Der Unterschied liegt im Masse der Heftigkeit solcher Gefühle. Der islamische Hass der arabischen Welt auf uns Juden ist ungleich stärker als jüdische „Hass“ auf die arabische Welt – und er wächst. Zwar gibt es Rabbiner, die ähnlich Unsauberes von sich geben, aber die massive Mehrheit der Israelis lehnt diesen Unfug ab. Die hier präsentierte Predigt zeigt und begründet einen Teil der israelischen Vorsicht im Umgang mit Friedensverhandlungen und deshalb empfehle ich deren Lektüre.

New Israel Fund (NIF)

Zurzeit wird der New Israel Fund weltweit angefeindet und angegriffen. Man wirft ihm vor „israelkritische“ Organisationen zu unterstützen, darunter auch solche, sogar jüdische, die die Existenz Israel völlig ablehnen. Die den NIF anklagenden Rechten scheinen etwa hysterisch zu sein. Ich finde es gut, dass es neben traditionellen zionistischen Gruppierungen, die heute für meinen Geschmack zu nationalistisch geworden sind und blind alles unterstützen, das Rechts stehende israelische Politiker anrichten, auch kritische, aber vernünftige Gruppen unterstützt werden. Als jemand, der als Delegierter an verschiedenen Kongressen der Jewish Agency teilgenommen hat, sitzen mir vergangene Eindrücke noch immer in den Knochen – wie etwa den hysterischen Jubel, den man Bibi Nethanyahu und Limor Livnat entgegenbrachte, als sie ihre Lügen vor den Delegierten des Kongresses zum besten gaben, dem ein Pfeifkonzert und demonstratives Verlassen des Kongressraums beim Referat des „Linken“ Yossi Sarid kontrastreich gegenüber stand.

Vor kurzem sprach ich mit einem Schweizer Vertreter des NIF, den ich um Unterstützung für unsere Kunstgalerie und Sozialwerk in Umm El-Fahm bat. Als ich erzählte, dass der arabische Gründer und Leiter der Galerie, Said Abu-Shakra, ein pensionierter hoher israelischer Polizeioffizier sei, der gegen Jugendkriminalität und Drogen kämpfte, hörte ich (sinngemäss), dass es schwer sein werde, einen israelischen Araber zu unterstützen, der bei der israelischen Polizei gewesen sei und dann noch als höherer Offizier. Ich war entsetzt über eine solche anscheinend „politisch korrekte“ Einstellung. Said Abu-Shakra trug mit seiner Polizeiarbeit (die eigentlich mehr Sozialarbeit war) wesentlich mehr für den Staat bei, als jeder "Israelkritiker", der aus dem sicheren Ausland mit fehlendem Sachverstand Israel kritisiert .Said erfüllte seine Pflicht als israelischer Bürger auf wirklich demokratische Art und Weise und tut es heute, in seiner Tätigkeit als Galerist, noch weit mehr. Das Bild eines israelischen Arabers, der seine Bürgerpflicht tut, der Versöhnung lebt und statt über die (bestehende) Benachteiligung der arabischen Bürger zu klagen, positives dagegen tut – das scheint nicht in die Sichtweise des armen Arabers (dem Eingeborenen) in Israel zu passen, das sich die weltweite extreme Linke zurechtgelegt hat. Saids Motto „tun statt jammern“ entspricht nicht der Auffassung israelkritischer Gutmenschen, ist ihnen vielleicht politisch nicht korrekt genug. Der Rassismus dieser Leute verlangt, so scheint mir, einen hilflosen „Eingeborenen“, den man hätscheln kann, der dankbar ist und nicht einen selbstbewussten, für sich selbst verantwortlichen Menschen, der alles tut, um auf gleicher Augenhöhe mit seinen Mitmenschen zusammenzuleben und selbstständig zu agieren.

Freitag, 12. Februar 2010

Über die Rationalität arabischer Politik

Es ist schon gut fünfzehn Jahre her, dass ich in Kairo war. Auf einer Geschäftreise zwar, doch nahm ich die Gelegenheit wahr einige touristische Highlights zu besuchen, wie das grossartige Ägyptische Museum und die Pyramiden. Ich machte auch eine Visite zu Sadats Grab und da in der Nähe auch das Denkmal für den ägyptischen „Sieg“ über Israel im Yom-Kippur Krieg steht, sah ich mir auch dieses an. Da ich ein höflicher Mensch bin, unterdrückte ich einen Lachanfall, denn ich wollte meine Gastgeberin Mona, damals Geschäftsführerin unserer dortigen Filiale, nicht beleidigen. Zwar ist sie Koptin, Mitglied dieser von den Islamisten Ägyptens heute ganz besonders blutig verfolgten christlichen Kirche und wird deswegen ihr rationales Denken, das sie in ihrer erfolgreichen Arbeit täglich bewies, nicht mit arabischem Wunschdenken und politischem Selbstbetrug verwechselt haben.

In 1973 stand General Ariel Sharon mit seiner Division hundertfünfzig Kilometer vor Kairo, hatte Ägyptens Dritte Armee umzingelt und bedrohte Ägyptens Hauptstadt. Er zog ausschliesslich deshalb wieder ab, weil der Westen die israelische Regierung dazu zwang. Diese Tatsache wird dem ägyptischen Volk bis heute vorenthalten, stattdessen wurde ein Siegesdenkmal gebaut und damit ein Sieg vorgegaukelt, der eigentlich, rational gesehen, eine weitere katastrophale Niederlage für die angreifende arabischen Armee war. Wahrheit wurde durch arabische „Rationalität“ ersetzt, ein weiteres Beispiel für den kaum vorhandenen Realitätssinn dieser Welt.

Der Mangel an rationalem Denken und das Verhalten der arabischen und islamischen Welt wird im Westen weder von Regierungen, Kommentatoren oder Bürgern, ausgenommen von apologetischen Gutmenschen, die auch das „verstehen“, begriffen. Ich bin schon vor langem zum Schluss gekommen, dass diese Eigenschaft der Hauptgrund ist, warum die freie Welt in ihren Bemühungen, die arabische Welt zu befrieden (denken wir an Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan, Saudiarabien, Yemen usw.) auf keinen grünen Zweig kommt. Denn in diesen Ländern denkt man anders, funktioniert man anders, kritisches Denken wird durch Religion, Tradition und mangelndes Wissen unterbunden und statt realistischem Denken gibt man sich dem Erfinden von Verschwörungstheorien hin. Kosten-Nutzen Denken ist mit dem gängigen jihadistischen Todeskult, dem von den die islamische Welt führenden Islamisten öffentlich gefördertem Hass, sei es auf Juden, Amerika, Christen, sei es auf die Moderne und ähnlichem nicht zu vereinbaren.

• Wir (die westliche Welt) denken noch immer und wider täglicher das Gegenteil beweisender Evidenz, dass Iran und seine atomaren Rüstungsanstrengungen durch wirtschaftliche oder gar militärische Beeinflussung beeinflusst werden kann. Die iranische Regierung pfeift darauf und Ahmedinejad sagte offen, dass es ihr nichts ausmache, Israel zu zerstören, auch wenn es Millionen iranische Leben koste.

• Wir dachten stets, dass Saddam Hussein seine Gaskriege gegen seine eigene Bevölkerung und seine Bedrohung der Nachbarländer auf Grund der schlechten Presse einstellten würde. Er musste gestürzt und gehängt werden – doch noch immer gibt es grosse Kreise, die ihn posthum verehren (wie es heute mit Stalin in Russland geschieht) und sämtliche Gründe für den heutigen Blutzoll bei den USA und anderen westlichen Ländern, statt bei Al-Kaida, suchen. Kosten für das irakische Land sind enorm, Nutzen ist wenig auszumachen. Von Kosten-Nutzen Denken ist nichts zu spüren. Die irakischen Eliten und die jihadistischen Terrorbanden halten offensichtlich wenig von Zusammenarbeit zum Wohle des Landes, Jeder gegen Jeden ist heute populär.

• Hamas (von Fatah halte ich nicht viel mehr) Priorität ist das Töten aller Israelis, das Verfolgen von Christen in Gaza, Korruption und das Stehlen von für den Wiederaufbau bestimmter internationaler Gelder, zwecks weitergehender Aufrüstung. Das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung ist ihr völlig egal, diese wird als politische Schachfigur benützt, die selbst verursachte Not wird der Presse professionell vorgeführt. Eine Not übrigens, die sich mit der Not der Menschen in Manila, Kairo, Kalkutta and anderen wirklich überbevölkerten Orten überhaupt nicht vergleichen lässt.

• Nirgends ist das fehlende Kosten-Nutzen-Denken so offensichtlich, wie bei den Palästinensern. Man denke an den Selbstmordterrorismus, den internen Terror gegen die Vernunft und deren Elite, gegen Christen und die allumfassende Korruption, die seit der Rückkehr Arafats s.A.

• Ein Kosten-Nutzen-Denken Ägyptens würde die Zusammenarbeit und den Wohlstand dieses Landes fördern. Stattdessen gibt es einen sehr kalten Frieden, der ausser einigen Regierungsmitgliedern und ganz wenigen Intellektuellen, so kalt ist, dass einem das Schnäbeli abfrieren kann. Das ägyptische Volk wird zum Juden- und Israelhass aufgehetzt, die muslimische Brüderschaft des Landes, denen Kosten-Nutzen-Denken ein Begriff wider die Natur ist, sorgt dafür. In Jordanien ist es ähnlich, auch wenn viele Israelis dort Geschäftsverbindungen haben und ein gewisser Tourismus nach Petra besteht. Das jordanische Volk hasst Israel und Juden und ist einem gelegentlichen Terrorakt nicht abgeneigt. Seine wachsende Mehrheit besteht aus Palästinensern – die beduinische Armee des Königs wacht darüber, dass diese nicht wieder die Revolution proben, wie in 1970. Das sind vor allem Kosten, einen produktiven Nutzen gibt es in Ägypten keinen, in Jordanien wenig.

„Juden sind Juden, egal ob vom Likud oder der Arbeitspartei. Es gibt unter ihnen keine moderate oder friedenswillige. Man muss sie schlachten und töten. ” Das ist ein Auszug aus der “Predigt” eines Imams der Hamas, dem Herrn Dr. Ahmad Abu Halabiya, Rektor of Advanced Studies der Islamic University in Gaza. (klick auf TV-Video Library > Topic VI), zwar in Arabisch und mit englischen Untertiteln versehen, doch hören- und sehenswert. Viel mehr als oben Erwähntes hat er nicht zu sagen, denn ausser für Judenhass – in diesem Fall religiös verbrämt – ist seinem Hirn keinen Platz vorhanden. Das hier gezeigte Beispiel ist nur eines von vielen. Es gibt Tausende davon, aus Gaza, der Westbank, Saudiarabien, Ägypten, Irak und den meisten Ländern des Islams. Dieser kurze Film führt vor, was ich oben geschrieben habe: Rationalität (wenn je vorhanden) hat in der muslimischen Welt dem dumpfsten möglichen Judenhass Platz gemacht und das seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, mit dem Aufkommen der Muslimischen Brüderschaft von Hassan Al-Banna. Die Worte sind klar und es liegt an den Medien, an den vernünftigen Muslimen und deren Politikern (dies es gibt, sich aber mit Recht fürchten, sich öffentlich und aktiv dagegen zu wehren und diesen Fanatikern das Handwerk zu legen). Politisch nicht ganz so korrekte, dafür ehrliche Europäer und einige Amerikaner tun das seit langem, doch statt das Übel an der Wurzel anzupacken werden Alibiveranstaltungen wie die Minarettabstimmung der Schweiz veranstaltet, die ausser einem schlechten Namen für dieses Land, nichts ergaben. Das Übel der völlig fehlenden Rationalität der öffentlichen muslimischen Welt, ob in ihrer eigenen Region oder heute im Westen, ist das zu bekämpfende Grundübel. Dazu sind in allen europäischen Ländern genug bestehende Gesetze da, das Terrorapologetentum aus den eigenen Reihen muss blossgestellt und bekämpft werden, denn es ist ebenso realitätsfern und gefährlich, wie der von ihnen verstandene und liebevoll unterstützte jihadistische Terror an sich, egal ob in Israel oder im Rest der Welt.


Leider, das darf nicht unterschlagen werden, haben sich in Israel in den vergangenen Jahrzehnten ähnliche Phänomene dieser Art entwickelt, auch wenn sie von der Mehrheit der Israelis nicht akzeptiert werden. Grossisraelfantasten, ob sekulär-geschichtlich oder religiös-fundamentalistisch, sind politisch sogar in der gegenwärtigen Regierung vertreten. Ihre Eiferer üben Gewalt gegen die arabische Bevölkerung der Westbank und werden von der Armee und Polizei zu oft mit Glacehandschuhen angefasst. Das, so denke ich, aus falschen politischen Rücksichten und auch, weil es heute vermehrt Soldaten gibt, die extremistische Ansichten mit einigen Siedlergruppen und der sogenannten Hügeljugend teilen. Dahinter stehen, wie bei den Muslimen die Imame, bei den Juden eine grössere Zahl moralisch korrupter Rabbiner, die Hass streuen und Gewalt begrüssen – darüber ich habe in meine Tagebucheintrag vom 20.1.2010 über die Zeloten unserer Tage meine Betrachtungen geschrieben. Folgen ihrer Aktionen interessieren auch sie nicht, ein Kosten-Nutzen Denken ist ihnen fremd, genau wie arabischen Extremisten. Nutzen gibt es keinen, die Kosten interessieren sie nicht. Höchsten das Ego jauchzt über diese „gottgefälligen“ Taten. Zu relativieren gibt es da nichts, die Unterschiede zwischen arabischem und jüdischem Mangel an Rationalität sind zwar noch immer gross, ganz besonders in ihrer Auswirkung auf die Politik der jeweiligen Regierungen. Das Phänomen offizieller palästinensischer und arabischer Kommunikationen in zwei Sprachen und jeweils mit völlig verschiedenen, ja gegenteiligen Aussagen, gibt es nur in der arabischen und ganz speziell in der palästinensischen Gesellschaft. Was der Welt in englischer Sprache mitgeteilt wird, ist das Gegenteil dessen, was dem arabischen und palästinensischen Volk von seinen Anführern und Politikern zum selben Thema in Arabisch gesagt wird. Was in Englisch vernünftig klingt, ist in Arabisch ein Aufruf zum Juden- oder Amerikanerhass. Ein Blick in MEMRI Übersetzungen von Texten und Filmen aus dem Arabischen bestätigt das. Onkel Arafat war Meister dieses Faches, seine Jünger haben ihn überlebt und zeigen, dass sie wenigstens im Doublespeak lernfähig sind.

Samstag, 6. Februar 2010

Faschismus - eine Definition als Hausaufgabe

Für einmal schreibe ich mit der Schere. Umberto Eco – es muss hoffentlich nicht erklärt werden, wer das ist - schrieb vor fünfzehn Jahren einen Essay zum Thema Faschismus, den er „Urfaschismus“ nennt. Eingebaut in Kindheitserinnerungen aus dem Zweiten Weltkrieg in Italien, sinniert er über den Faschismus und stellt vierzehn Eigenschaften auf, die dieser Ideologie eigen sind, wie auch das Wesen der Menschen, die darauf hereinfallen und so aktiv oder passiv das Verbrechen des Faschismus unterstützen. Der Essay ist lang, doch extrem lesenswert. Automatisch beginnt man, sich in der Welt umzusehen, wer und was in den heutigen Tagen mit den erwähnten Eigenschaft identifiziert wird oder die Labilität besitzt, Faschismus zu „benötigen“.

Urfaschismus (aus „Die Zeit“, 28/1995)

Im Jahre 1942, ich war gerade zehn Jahre alt, errang ich in meiner Provinz den ersten Preis bei den Ludi Juveniles (einem erzwungen freiwilligen Wettbewerb für junge italienische Faschisten - also für jeden jungen Italiener). Ich hatte mit rhetorischem Geschick das Thema behandelt: "Sollen wir sterben für den Ruhm Mussolinis und die ewige Bestimmung Italiens?" Ich äußerte mich bejahend. Ich war ein heller Junge.

Zwei Jahre lang beschossen sich um mich herum SS, Faschisten, Republikaner und Partisanen, und ich lernte, den Kugeln aus dem Wege zu gehen. Es war eine nützliche Übung. Im April 1945 übernahmen die Partisanen in Mailand die Macht. Zwei Tage später kamen sie auch in die kleine Stadt, in der ich damals lebte. Es war ein Moment überschäumender Freude. Der große Platz war gefüllt mit singenden und fahnenschwingenden Menschen, die laut nach Mimo riefen, dem Partisanenführer unseres Gebiets. Mimo, ein ehemaliger Maresciallo der Carabinieri, hatte sich den Anhängern General Badoglios angeschlossen, des Nachfolgers Mussolinis, und bei einem der ersten Gefechte mit Mussolinis verbliebenen Streitkräften hatte er ein Bein verloren. Mimo trat auf den Balkon des Rathauses, bleich, auf seine Krücke gestützt, und versuchte mit einer Hand, die Menge zur Ruhe zu bringen. Ich erwartete eine Rede, denn meine gesamte Kindheit war von den großen historischen Reden Mussolinis geprägt, deren wichtigste Passagen wir in der Schule hatten auswendig lernen müssen. Stille. Mimo sprach mit heiserer Stimme, kaum hörbar. Er sagte: "Bürger, Freunde. Nach so vielen schmerzlichen Opfern . . . jetzt sind wir hier. Ruhm allen, die für die Freiheit gefallen sind." Das war's. Er ging wieder hinein. Die Menge jubelte, die Partisanen erhoben ihre Gewehre und schossen zur Feier des Tages in die Luft. Wir Kinder beeilten uns, die Hülsen aufzusammeln, sehr begehrte Dinge, aber zugleich hatte ich gelernt, daß Redefreiheit auch Freiheit von Rhetorik bedeutet.

Einige Tage später sah ich die ersten amerikanischen Soldaten: Afroamerikaner. Der erste Yankee, dem ich begegnete, war ein schwarzer Mann, Joseph, der mich mit den Wundern von Dick Tracy und Li'l Abner bekannt machte. Seine Comics hatten bunte Bilder und rochen gut. Einer der Offiziere (Major oder Captain Muddy) war in der Villa einer Familie zu Gast, deren zwei Töchter mit mir in die Schule gingen. Ich begegnete ihm in ihrem Garten, wo einige Damen Captain Muddy umringten und in stockendem Französisch auf ihn einredeten. Auch Captain Muddy konnte ein bißchen Französisch. Mein erstes Bild von den amerikanischen Befreiern war daher - nach so vielen Bleichgesichtern in Schwarzhemden - der Anblick eines kultivierten schwarzen Mannes in einer olivgrünen Uniform, der sagte: "Oui, merci beaucoup, Madame, moi aussi j'aime le champagne . . ." Zwar gab es leider keinen Champagner, aber Captain Muddy schenkte mir meinen ersten Streifen Wrigley's Spearmint, und ich kaute den ganzen Tag. Nachts legte ich den Klumpen in ein Glas Wasser, damit er auch am nächsten Tag noch frisch wäre.

Im Mai hörten wir, der Krieg sei vorbei. Der Friede vermittelte mir ein eigenartiges Gefühl. Man hatte mir gesagt, Krieg ohne Ende sei für einen jungen Italiener normal. In den nächsten Monaten entdeckte ich, daß es die Resistenza nicht nur bei uns gegeben hatte, sondern in ganz Europa. Ich lernte neue, erregende Worte wie réseau, maquis, armée secrète, Rote Kapelle, Warschauer Ghetto. Ich sah die ersten Photographien vom Holocaust und begriff seine Bedeutung, bevor ich das Wort zum ersten Mal hörte. Mir wurde klar, wovon man uns befreit hatte.

In meinem Lande fragen sich manche Menschen heute, ob die Resistenza den Verlauf des Krieges militärisch denn wirklich beeinflußt habe. Für meine Generation ist diese Frage völlig irrelevant: Die moralische und psychologische Bedeutung der Resistenza verstanden wir sofort. Wir empfanden Stolz in dem Wissen, daß wir Europäer nicht passiv auf die Befreiung gewartet hatten. Und für die jungen Amerikaner, die mit ihrem Blut für die Wiederherstellung unserer Freiheit zahlten, war es auch nicht ohne Bedeutung, daß es jenseits der Gefechtslinien Europäer gab, die ihre Schulden im voraus abzahlten. In meinem Lande sagen Menschen heute, der Mythos der Resistenza sei eine kommunistische Lüge gewesen. Es stimmt, daß die Kommunisten die Resistenza ausbeuteten, als sei sie ihr persönliches Eigentum - sie hatten die größte Rolle in ihr gespielt; aber ich erinnere mich an Partisanen mit verschiedenfarbigen Armbinden.

Dicht ans Radio gedrückt, lauschte ich nachts - bei geschlossenen Fenstern, in der Verdunkelung leuchtete einsam eine kleine Höhle um das Gerät - den Botschaften, die die Voice of London für die Partisanen ausstrahlte. Sie waren geheimnisvoll und poetisch zugleich ("Die Sonne geht wieder auf", "Die Rosen werden blühen"), und die meisten waren "messaggi per la Franchi". Jemand flüsterte mir zu, Franchi sei der Führer des stärksten Untergrundnetzes in Nordwestitalien, ein Mann von legendärer Tapferkeit. Franchi wurde mein Held. Franchi (sein wirklicher Name war Edgardo Sogno) war ein Monarchist, so entschieden antikommunistisch, daß er sich nach dem Krieg rechten Gruppen anschloß und angeklagt wurde, er habe sich an der Vorbereitung eines reaktionären Staatsstreiches beteiligt. Wen kümmert es? Sogno ist noch immer der Traumheld meiner Kindheit. Die Befreiung war die gemeinsame Tat von Menschen, die unter verschiedenen Fahnen kämpften.

In meinem Lande sagen einige Menschen heute, der Befreiungskrieg sei eine tragische Zeit der Spaltung gewesen, und wir bedürften der nationalen Versöhnung. Die Erinnerung an diese schrecklichen Jahre müsse unterdrückt werden, refoulée, verdrängt. Aber aus Verdrängung entstehen Neurosen. Versöhnung mag Mitleid bedeuten und Respekt für alle, die aufrichtig ihren eigenen Krieg kämpften, aber Vergeben ist nicht Vergessen. Ich könnte sogar Eichmann zugestehen, daß er allen Ernstes an seine Mission glaubte, aber ich kann nicht sagen: "Also gut, komm zurück, und tu es noch mal."

Wir müssen uns der Vergangenheit erinnern und entschieden bekunden, daß "sie" keine Chance mehr bekommen dürfen. Aber wer sind "sie"? Wenn wir uns der totalitären Regimes erinnern, die Europa vor dem Zweiten Weltkrieg beherrschten, liegt es nahe zu sagen, sie könnten unter veränderten historischen Bedingungen wohl kaum wieder in der gleichen Form auftreten. Wenn Mussolinis Faschismus sich auf die Idee eines charismatischen Führers gründete, auf den Korporativismus, auf die Utopie von Roms imperialer Bestimmung, auf einen imperialistischen Willen zur Eroberung neuer Gebiete, auf einen übersteigerten Nationalismus, auf das Ideal einer ganzen Nation in Schwarzhemden, auf die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, auf den Antisemitismus - dann kann ich leicht einräumen, daß die italienische Alleanza Nazionale, hervorgegangen aus der faschi stischen Nachkriegspartei MSI und mit Sicherheit eine Partei des rechten Flügels, derzeit nur sehr wenig mit dem alten Faschismus zu tun hat. Und obwohl auch mich die verschiedenen naziähnlichen Bewegungen hier und da in Europa einschließlich Rußlands beunruhigen, werde ich ebensowenig glauben, daß der Nazismus in seiner ursprünglichen Form als nationale Bewegung wiederauferstehen könne. Dennoch: Politische Regimes können zwar gestürzt, Ideologien kritisiert und abgelehnt werden - aber hinter einem Regime und seiner Ideologie steht immer eine Art des Denkens und Fühlens, eine Anhäufung kultureller Gewohnheiten, obskurer Instinkte und unauslotbarer Triebe.

Sprachgewohnheiten bieten häufig wichtige Hinweise auf zugrundeliegende Gefühle. Deshalb lohnt die Frage, warum nicht nur die Resistenza, sondern auch der Zweite Weltkrieg überall ganz allgemein als Kampf gegen den Faschismus definiert wurde. Blickt man wieder einmal in Hemingways "Wem die Stunde schlägt", so entdeckt man, daß Robert Jordan seine Feinde mit den Faschisten identifiziert, selbst wenn er die spanischen Falangisten im Sinn hat. Und Franklin Delano Roosevelt sieht im "Sieg des amerikanischen Volkes und seiner Alliierten einen Sieg über den Faschismus und das Erbe des Despotismus, den er vertritt". Während des Zweiten Weltkriegs galten die Amerikaner, die im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatten, als "vorzeitige Antifaschisten" - soll heißen, daß in den vierziger Jahren der Kampf gegen Hitler für jeden guten Amerikaner eine moralische Pflicht war, aber der verfrühte Kampf gegen Franco in den Dreißigern hatte einen unguten Beigeschmack, weil er in erster Linie von Kommunisten und anderen Linken geführt wurde . . . Warum benutzten amerikanische Radikale dreißig Jahre später einen Ausdruck wie Faschistenschwein für Polizisten, die ihre Rauchgewohnheiten mißbilligten? Warum sagten sie nicht: Cagoulardschwein, Falangistenschwein, Ustaschaschwein, Quislingschwein, Nazischwein?

"Mein Kampf" ist ein Manifest mit einem umfassenden politischen Programm. Der Nazismus besaß eine Theorie des Rassismus und der Überlegenheit der Arier, eine klare Vorstellung von entarteter Kunst, eine Philosophie vom Willen zur

Macht und vom Übermenschen. Der Nazismus war entschieden antichristlich und neuheidnisch, während Stalins Diamat (die offizielle Version des sowjetischen Marxismus) offen materialistisch und atheistisch war. Versteht man unter Totalitarismus ein Regime, das jeden Akt des Individuums dem Staat und seiner Ideologie unterwirft, dann waren sowohl der Nazismus wie der Stalinismus wirklich totalitäre Regimes.

Der italienische Faschismus war mit Sicherheit eine Diktatur, aber er war nicht durchgehend totalitär - nicht weil er so milde gewesen wäre, sondern eher aufgrund der philosophischen Schwäche seiner Ideologie. Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Ansicht verfügte der Faschismus in Italien über keine besondere Philosophie. Den mit Mussolini unterzeichneten Artikel "Faschismus" in der Encyclopedia Treccani hatte Giovanni Gentile geschrieben oder weitgehend inspiriert, und er verriet eine späthegelianische Vorstellung vom absoluten und ethischen Staat, die Mussolini niemals vollständig bewußt wurde. Mussolini besaß keinerlei Philosophie, sondern lediglich Rhetorik.

Zu Anfang war er ein militanter Atheist, später unterzeichnete er die Lateranverträge und ließ die faschistischen Banner von Bischöfen segnen. In seinen frühen antiklerikalen Jahren soll er nach einer glaubwürdigen Legende Gott aufgefordert haben, er solle ihn auf der Stelle niederstrecken, wenn er seine Existenz beweisen wolle. Später berief sich Mussolini in seinen Reden ständig auf Gott und störte sich nicht daran, wenn man ihn als den Mann der Vorsehung bezeichnete. Der italienische Faschismus war die erste rechtsgerichtete Diktatur in einem europäischen Land, und für alle späteren derartigen Bewegungen bildete Mussolinis Regime eine Art Archetypus. Der italienische Faschismus führte als erster eine militärische Liturgie ein, eine Folklore, sogar eine Art, sich zu kleiden - mit ihren schwarzen Hemden weit einflußreicher, als Armani, Benetton oder Versace jemals werden sollten. Erst in den Dreißigern entstanden die faschistischen Bewegungen überall, mit Mosley in Großbritannien, in Lettland, Estland, Litauen, Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Jugoslawien, Spanien, Portugal, Norwegen und sogar in Südamerika.

Dennoch scheint mir die historische Priorität kein ausreichender Grund für die Erklärung, warum das Wort Faschismus zu einer Synekdoche wurde, zu einem Wort, das sich für unterschiedliche totalitäre Bewegungen verwenden ließ. Der Grund ist nicht etwa, daß der Faschismus in sich, sozusagen in seiner Quintessenz, sämtliche Elemente aller späteren Formen des Totalitarismus enthielt. Im Gegenteil: Der Faschismus verfügte über keinerlei Quintessenz. Der Faschismus war ein verschwommener Totalitarismus, eine Collage aus verschiedenen philosophischen und politischen Gedanken, ein Bienenkorb an Widersprüchen. Kann man sich eine wirklich totalitäre Bewegung vorstellen, die die Monarchie mit der Revolution hätte vereinen können, die Königliche Armee mit Mussolinis persönlichen Milizen, Privilegien für die Kirche mit einer staatlichen Erziehung, die Gewalt predigte, absolute staatliche Kontrolle mit einem freien Markt?

Nehmen wir den Futurismus. Man könnte denken, er wäre als Beispiel entarteter Kunst beurteilt worden, zusammen mit Expressionismus, Kubismus und Surrealismus. Aber die frühen italienischen Futuristen waren Nationalisten; aus ästhetischen Gründen befürworteten sie Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg; sie feierten Geschwindigkeit, Gewalt und Risiko, und all das ließ sich anscheinend irgendwie mit dem faschistischen Jugendkult vereinen. Während sich der Faschismus mit dem römischen Imperium identifizierte und ländliche Traditionen ausgrub, wurde Marinetti (der verkündete, ein Auto sei schöner als die Nike von Samothrake, und der sogar dem Mondschein den Garaus machen wollte) zum Mitglied der Italienischen Akademie ernannt, die dem Mondschein mit größter Hochachtung begegnete.

Das bedeutete nicht, daß der italienische Faschismus tolerant war. Gramsci wurde bis zu seinem Tode eingekerkert; die Oppositionsführer Giacomo Matteotti und die Brüder Rosselli wurden ermordet; der Pressefreiheit wurde ein Ende gemacht, die Gewerkschaften wurden aufgelöst und politisch Andersdenkende auf entlegene Inseln verbannt. Die Legislative verkam zu einer bloßen Fiktion; die Exekutive (die die Rechtsprechung ebenso kontrollierte wie die Massenmedien) erließ eigenständig neue Gesetze, darunter die Gesetze zur Rassereinheit (die formale italienische Unterstützungsgeste für das, was später der Holocaust wurde).

Es gab nur einen Nazismus. Das faschistische Spiel jedoch läßt sich nach vielen Regeln spielen, und der Name des Spiels ändert sich dabei nicht. Die Idee des Faschismus ist Wittgensteins Vorstellung von einem Spiel nicht unähnlich. Ein Spiel kann ein Wettbewerb sein oder auch nicht, es kann einen oder mehrere Menschen interessieren, es kann besondere Fertigkeiten voraussetzen oder gar keine, Geld kann im Spiel sein oder nicht. Spiele sind unterschiedliche Tätigkeiten, die nur eine gewisse "Familienähnlichkeit" aufweisen, wie es Wittgenstein ausdrückte.

Betrachten wir die folgende Reihe: 1 2 3 4 abc bcd cde def. Nehmen wir an, in einer Reihe politischer Gruppen sei Gruppe eins gekennzeichnet durch die Merkmale abc, Gruppe zwei durch die Merkmale bcd und so weiter. Gruppe zwei ähnelt Gruppe eins, weil beiden zwei Merkmale gemeinsam sind; aus den gleichen Gründen ähnelt Gruppe drei Gruppe zwei und Gruppe vier Gruppe drei. Man beachte, daß Gruppe drei auch Gruppe eins ähnlich ist (sie haben c gemein).

Den eigenartigsten Fall bildet Gruppe vier, die offensichtlich den Gruppen drei und zwei ähnelt, mit Gruppe eins jedoch kein einziges Merkmal teilt. Aber aufgrund der kontinuierlichen Reihung abnehmender Ähnlichkeiten zwischen Gruppe eins und Gruppe vier bleibt durch eine Art illusorischer Transitivität eine Familienähnlichkeit zwischen den Gruppen vier und eins erhalten. Der Faschismus ließ sich als Bezeichnung für die unterschiedlichsten Zwecke verwenden, weil ein faschistisches Regime auch dann noch als faschistisch kenntlich bleibt, wenn man ihm ein oder mehrere Merkmale nimmt.

Ziehen wir vom Faschismus den Imperialismus ab, so haben wir noch immer Franco und Salazar. Nehmen wir den Kolonialismus fort, so bleibt uns noch immer der Balkanfaschismus der Ustaschi. Fügen wir dem italienischen Faschismus einen radikalen Antikapitalismus hinzu (der auf Mussolini nie besonders reizvoll wirkte), dann haben wir Ezra Pound. Geben wir einen Kult um keltische Mythologie und die Gralsmystik hinzu (dem offiziellen Faschismus vollständig fremd), dann steht vor uns einer der angesehensten faschistischen Gurus, Julius Evola. Aber trotz dieser Verschwommenheit halte ich es für möglich, eine Liste von Merkmalen aufzustellen, die typisch wären für das Gebilde, das ich als Urfaschismus oder ewigen Faschismus bezeichnen möchte.

Diese Merkmale lassen sich nicht zu einem System organisieren; viele von ihnen widersprechen einander und lassen sich außerdem auch anderen Formen des Despotismus oder Fanatismus zuordnen. Aber jedes einzelne von ihnen kann zum Kristallisationspunkt für den Faschismus werden.

1. Das erste Merkmal des Urfaschismus ist der Traditionskult. Traditionalismus ist natürlich viel älter als der Faschismus. Er war nicht nur typisch für das konterrevolutionäre katholische Denken nach der Französischen Revolution, sondern entstand schon im hellenistischen Synkretismus als Reaktion auf den griechischen Rationalismus der Klassik. Synkretismus ist nicht nur, wie es im Wörterbuch heißt, "die Vermischung verschiedener Religionen, Konfessionen oder philosophischer Lehren". Eine jede der ursprünglichen Botschaften enthält einen Splitter der Weisheit, und wenn sie auch unterschiedliche oder unvereinbare Dinge verkünden mögen, so beziehen sie sich doch sämtlich auf die gleiche ursprüngliche Wahrheit. Es kann daher keinen Fortschritt der Erkenntnis geben. Die Wahrheit ist ein für allemal verlautbart, und uns bleibt nur, ihre unverständliche Bedeutung zu interpretieren.

Die Nazi-Gnosis nährte sich aus traditionalistischen, synkretistischen, okkulten Elementen. Der einflußreichste Urheber der Theorien der neuen italienischen Rechten, Julius Evola, verschmolz den Heiligen Gral mit den Protokollen der Weisen von Zion, Alchemie mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Daß die italienische Rechte vor kurzem ihren Kanon um Werke von De Maistre, Guenon und Gramsci bereicherte, um ihre Offenheit zu demonstrieren, ist ein Beleg des Synkretismus. Wenn man in amerikanischen Buchhandlungen in den Regalen mit dem Etikett New Age herumstöbert, findet man dort sogar den heiligen Augustin, der nach meiner Kenntnis kein Faschist war. Aber der heilige Augustin in Verbindung mit Stonehenge - da springt uns ein Symptom des Urfaschismus ins Auge.

2. Traditionalismus impliziert die Ablehnung der Moderne. Sowohl Faschisten als auch Nazis verehrten die Technologie, während traditionalistische Denker sie gewöhnlich als Negation traditioneller geistiger Werte ablehnen. Aber obwohl der Nazismus auf seine industriellen Leistungen stolz war, lag sein Modernismus nur an der Oberfläche einer Ideologie, die sich auf Blut und Boden gründete. Die Ablehnung der modernen Welt tarnte sich als Ablehnung kapitalistischer Lebensweise, aber in erster Linie ging es um die Ablehnung des Geistes von 1789. Die Aufklärung, das Zeitalter der Vernunft, gilt als Beginn moderner Entartung. In diesem Sinne läßt sich Urfaschismus als Traditionalismus definieren.

3. Irrationalismus ist auch abhängig vom Kult der Aktion um der Aktion willen. Eine in sich schöne Aktion muß vor dem Denken erfolgen oder ganz ohne Denken. Denken ist eine Form der Kastration. Daher wird Kultur verdächtig, sobald sie mit kritischen Einstellungen identifiziert wird. Mißtrauen gegenüber der Welt des Intellekts war immer ein Symptom des Urfaschismus.

4. Kein synkretistischer Glaube kann analytischer Kritik widerstehen. Der kritische Geist macht Unterscheidungen. In der modernen Kultur lobt die Wissenschaft mangelnde Übereinstimmung als nützlich für die Bereicherung des Wissens. Für den Urfaschismus ist fehlende Übereinstimmung Verrat.

5. Zudem sind Meinungsverschiedenheiten ein Anzeichen der Vielfalt. Der Urfaschismus wächst und sucht Unterstützung, indem er die natürliche Angst vor Unterschieden ausbeutet und verschärft. Der erste Appell einer faschistischen oder vorfaschistischen Bewegung richtet sich gegen Eindringlinge. So ist der Urfaschismus qua Definition rassistisch.

6. Der Urfaschismus entstand aus individueller oder sozialer Frustration. Deshalb gehörte zu den typischen Merkmalen des historischen Faschismus der Appell an eine frustrierte Mittelklasse, eine Klasse, die unter einer ökonomischen Krise oder der Empfindung politischer Demütigung litt und sich vor dem Druck sozialer Gruppen von unten fürchtete. In unserer Zeit, da die alten "Proletarier" zu Kleinbürgern werden (und die Lumpenproletarier von der politischen Szene weitgehend ausgeschlossen sind), wird der Faschismus von morgen sein Publikum in dieser neuen Mehrheit finden.

7. Den Menschen, die sich einer ausgeprägten sozialen Identität beraubt fühlen, spricht der Urfaschismus als einziges Privileg das häufigste zu: im selben Land geboren zu sein. Dies ist der Ursprung des Nationalismus. Außerdem bezieht eine Nation ihre Identität nur aus ihren Feinden. Daher liegt an der Wurzel der urfaschistischen Psychologie die Obsession einer Verschwörung, am besten einer internationalen Verschwörung. Die Anhänger müssen sich belagert fühlen. Am leichtesten läßt sich dieser Verschwörung mit einem Appell an den Fremdenhaß begegnen.

8. Die Anhänger müssen sich vom offensichtlichen Reichtum und der Macht ihrer Feinde gedemütigt fühlen. Als ich ein Junge war, lehrte man mich, an die Engländer als das Volk mit den fünf Mahlzeiten zu denken. Sie aßen häufiger als die armen, aber nüchternen Italiener. Juden sind reich und helfen einander über ein geheimes Netz gegenseitiger Unterstützung. Aber die Anhänger müssen auch überzeugt sein, daß sie ihre Feinde besiegen können. Daher, durch ständige Verlagerung des rhetorischen Brennpunkts, sind die Feinde gleichzeitig zu stark und zu schwach. Faschistische Regierungen sind dazu verurteilt, Kriege zu verlieren, weil sie konstitutiv unfähig sind, die Stärke des Feindes richtig einzuschätzen.

9. Im Urfaschismus gibt es keinen Kampf ums Überleben - das Leben ist nur um des Kampfes willen da. Pazifismus ist daher Kollaboration mit dem Feind. Er ist schlecht, weil das Leben ein ständiger Kampf ist. Das jedoch führt zu einem Armageddon-Komplex. Da die Feinde besiegt werden müssen, ist auch eine Entscheidungsschlacht erforderlich, und danach wird die Bewegung die Weltherrschaft antreten. Aber eine solche "Endlösung" impliziert auch wieder eine Friedensära, ein neues Goldenes Zeitalter, was dem Prinzip des ständigen Krieges widerspricht. Keinem faschistischen Führer ist jemals die Lösung dieses Problems gelungen.

10. Elitedenken ist ein typischer Aspekt jeder reaktionären Ideologie, insoweit sie im Grunde aristokratisch ist, und aristokratisches und militaristisches Elitedenken hat eine grausame Verachtung des Schwächeren im Gefolge. Der Urfaschismus kann nur ein allgemeines Eliteempfinden vertreten. Jeder Bürger gehört dem besten Volke der Welt an, die besten Bürger sind die Mitglieder der Partei, jeder Bürger kann (oder sollte) der Partei beitreten. Aber ohne Plebejer keine Patrizier. Der Führer weiß, daß seine Macht ihm nicht demokratisch übertragen, sondern gewaltsam erobert wurde, und ihm ist ebenso klar, daß seine Kraft in der Schwäche der Massen wurzelt; sie sind so schwach, daß sie einen Führer brauchen und verdienen. Da die Gruppe hierarchisch organisiert ist (dem militärischen Modell nachempfunden), verachtet jeder Unterführer seine Untergebenen, und jeder von diesen verachtet die ihm Untergebenen. Das verstärkt das massenhafte Elitebewußtsein.

11. In einer solchen Perspektive werden alle zum Heldentum erzogen. In jeder Mythologie ist der Held ein außergewöhnliches Wesen, aber in der urfaschistischen Ideologie ist Heldentum die Norm. Dieser Kult des Heldentums hängt aufs engste mit dem Todeskult zusammen. Es war kein Zufall, daß ein Motto der Falangisten lautete: "Viva la Muerte". In nichtfaschistischen Gesellschaften gilt der Tod als eine unangenehme Erscheinung, der man mit Würde begegnen soll; dem Gläubigen ist er der schmerzhafte Weg zu jenseitigem Glück. Im Gegensatz dazu sucht der urfaschistische Held den heroischen Tod als beste Belohnung für ein heldisches Leben. Der urfaschistische Held erwartet den Tod mit Ungeduld. In seiner Ungeduld schickt er allerdings gern andere in den Tod.

12. Da sowohl endloser Krieg als auch Heroismus recht schwierige Spiele sind, überträgt der Urfaschist seinen Willen zur Macht auf die Sexualität. Hier liegt der Ursprung des machismo (zu dem Frauenverachtung ebenso gehört wie gewalttätige Intoleranz gegenüber ungewöhnlichen Sexualgewohnheiten, von der Keuschheit bis zur Homosexualität). Da auch die Sexualität ein schwieriges Spiel ist, neigt der Urfaschist zum Spiel mit Waffen - das wird zu einer phallischen Ersatzübung.

13. Der Urfaschismus gründet sich auf einen selektiven Populismus, einen sozusagen qualitativen Populismus. In einer Demokratie haben die Bürger individuelle Rechte, aber in ihrer Gesamtheit besitzen sie politischen Einfluß nur unter einem quantitativen Gesichtspunkt - man folgt den Entscheidungen der Mehrheit. Für den Urfaschismus jedoch haben Individuen als Individuen keinerlei Rechte, das Volk dagegen wird als eine Qualität begriffen, als monolithische Einheit, die den Willen aller zum Ausdruck bringt. Da eine große Menschenmenge keinen gemeinsamen Willen besitzen kann, präsentiert sich der Führer als Deuter. Da sie ihre Delegationsmacht verloren haben, handeln die Bürger nicht mehr; sie werden lediglich zusammengerufen, um die Rolle des Volkes zu spielen. Daher ist das Volk nichts als eine theatralische Fiktion. Für ein gutes Beispiel des qualitativen Populismus bedürfen wir nicht länger der Piazza Venezia in Rom oder des Nürnberger Parteitagsgeländes. In der Zukunft erwartet uns ein TV- oder Internet-Populismus, in dem die emotionale Reaktion einer ausgewählten Gruppe von Bürgern als Stimme des Volkes dargestellt und akzeptiert werden kann. Aufgrund seines qualitativen Populismus muß der Urfaschismus gegen "verrottete" parlamentarische Regierungen eingestellt sein. Wo immer ein Politiker die Legitimität eines Parlaments in Zweifel zieht, weil es den Willen des Volkes nicht mehr zum Ausdruck bringe, riecht es nach Urfaschismus.

14. Der Urfaschismus spricht Newspeak. Orwell erfand in "1984" Newspeak als offizielle Sprache von Ingsoc, dem englischen Sozialismus. Aber Elemente des Urfaschismus sind verschiedenen Formen der Diktatur gemeinsam. Alle Nazi- oder faschistischen Schulbücher bedienten sich eines verarmten Vokabulars und einer elementaren Syntax, um die Instrumente komplexen und kritischen Denkens im Keim zu ersticken. Aber wir müssen uns auch auf andere Formen von Newspeak einstellen, selbst wenn sie in der scheinbar unschuldigen Form einer populären Talk-Show daherkommen.

Am Morgen des 27. Juli 1943 erfuhr ich aus dem Radio, der Faschismus sei zusammengebrochen und Mussolini verhaftet. Als meine Mutter mich zum Zeitungholen schickte, entdeckte ich, daß die Zeitungen am nächsten Kiosk verschiedene Titel hatten. Mehr noch: Nachdem ich die Überschriften gelesen hatte, wurde mir klar, daß in jeder Zeitung etwas anderes stand. Ich entschied mich blind für eine und las auf der ersten Seite eine Erklärung, die von fünf oder sechs politischen Parteien unterzeichnet war - darunter die Democrazia Cristiana, die Kommunistische Partei, die Sozialistische Partei, der Partito d'Azione und die Liberale Partei. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich geglaubt, es gebe in jedem Land nur eine einzige Partei, und in Italien sei das der Partito Nazionale Fascista. Nun entdeckte ich, daß in meinem Lande mehrere Parteien nebeneinander existieren konnten. Da ich ein kluger Junge war, erkannte ich sofort, daß so viele Parteien nicht über Nacht aus dem Boden geschossen sein konnten, daß sie also schon seit einiger Zeit im Untergrund existiert haben mußten. Die Erklärung auf der Titelseite feierte das Ende der Diktatur und die Rückkehr der Freiheit: Freiheit der Rede, der Presse, der politischen Vereinigung. Diese Worte, "Freiheit", "Diktatur", "Rechte" - jetzt las ich sie zum ersten Mal in meinem Leben. Kraft dieser neuen Worte wurde ich neu geboren, als ein freier Mann des Westens. Wir müssen wachsam bleiben, damit der Sinn dieser Worte nicht wieder in Vergessenheit gerät. Der Urfaschismus ist immer noch um uns, manchmal sehr unscheinbar gewandet. Es wäre für uns so viel leichter, träte jemand vor und verkündete: "Ich will ein zweites Auschwitz, ich will, daß die Schwarzhemden wieder über Italiens Plätze paradieren." Das Leben ist nicht so einfach. Der Urfaschismus kann in der unschuldigsten Verkleidung wieder auftreten. Wir haben die Pflicht, ihn zu entlarven und jedes seiner neueren Beispiele kenntlich zu machen - an jedem Tag, an jedem Ort der Welt. Franklin Roosevelts Worte vom 4. November 1938 verdienen, nicht vergessen zu werden: "Ich wage zu behaupten, daß der Faschismus in unserem Lande an Kraft gewinnen wird, wenn die amerikanische Demokratie nicht als lebendige Kraft voranschreitet, um Tag und Nacht mit friedlichen Mitteln das Schicksal unserer Mitbürger zu verbessern." Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe.

1995 by Umberto Eco

Aus dem Englischen von Meinhard Büning

Umberto Eco, Inhaber eines Lehrstuhls für Semiotik an der Universität Bologna, ist seit seinem Roman "Der Name der Rose" nicht mehr nur einer der interessantesten Kunst- und Literaturtheoretiker, sondern auch einer der erfolgreichsten Bestsellerautoren. "Urfaschismus" ist der leicht gekürzte Text einer Vorlesung, die er am 24. April 1995 zum 50. Jahrestag der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus an der New Yorker Columbia University gehalten hat. Es ist eine der seltenen umfangreichen politischen Äußerungen Ecos.

Dienstag, 2. Februar 2010

Hausverkauf und Ämter

Wir haben noch nie selbst ein Haus verkauft oder gekauft. Stets waren es die Kinder, die sich darum kümmerten, mit einer Ausnahme: als wir 1966 den Kibbuz Hazorea verliessen, kauften wir eine kleine Dreizimmerwohnung (70m²) für junge Paare, in einem Haus mit vier Stockwerken auf Säulen – mit anderen Worten, wir wohnten im fünften Stockwerk, ohne Lift, aber wir hatten jungen Beine und starke Arme. Am Abend des Tages, an dem wir einzogen, nachdem wir die Kinder schlafen gelegt hatten, entdeckten wir plötzlich, dass die Schlafzimmer und die Küche unserer neuen Wohnung keine Türen besassen. Am nächsten Tag kam der Schreiner und innert Stunden waren welche eingesetzt. Inzwischen sollte man meinen wir seien gescheiter geworden – doch ohne Hilfe von damit erfahrenen inzwischen erwachsenen Kindern, Freunden und Shuli unserer Anwältin, wären wir heute fast so verloren wie vor vierundvierzig Jahren. Aber aus gesundheitlichen Gründen müssen wir heute leider unser Cottage verkaufen und in eine Wohnung ziehen, denn die Treppen unseres zweistöckigen Häuschens sind für Lea beschwerlich. In unserer neuen Behausung, einer grossen einstöckigen Wohnung mit Lift, Untergrundgarage und, das wird uns weiterhin genau so wichtig sein wie bis anhin, mit Gästezimmern für Enkel und Freunde. All das weiterhin in unserem Zichron Ya’akov, das Dorf mit den guten Beizen und der europäischen Kaffeehauskultur.

Ich weiss nicht wie es anderswo ist, doch die Menge der Bestätigungen und Bewilligungen, die Anzahl der Besuche bei unzähligen staatlichen und nichtstaatlichen Ämtern und dem dazugehörenden Zeitdruck, das Zittern vor dem Ja oder Nein ist so nerv zehrend, dass man ohne feinem Humor, ironischer Beobachtungsgabe und Freude an grotesken Details den Verstand verlieren kann. Dass die meisten dieser Bestätigungen auch noch Hunderte von Schekel kosten, ist das kleinste Übel. Dabei ist zu sagen, dass bei all diesen Ämtern und Institutionen, die dortigen Beamten und Beamtinnen äusserst nett und hilfreich waren und alles taten, die Abläufe zu beschleunigen. Aber auch so musste ich bei der Wa’ada vier Mal vorsprechen und jedes Mal eine Nummer nehmen und warten, bis ich zu meinem Dokument kam. Zum ersten Mal nahm ich, vorsichtig wie ich bin, ein Buch mit, doch unter den Wartenden fanden jedes Mal hochinteressante und laute Diskussionen statt, über Politik, lokalen Tratsch und über die lächerliche Bürokratie im Land. Daran musste ich selbstverständlich teilnehmen und meinen Senf dazu geben.

Visuell besonders beeindruckend unter den zu besuchenden Bürokratien war die „Wa’ada“, das Regionalbüro der Behörde, die Baubewilligungen erteilt, Projekte kontrolliert und am Ende, wenn das Hause bezugsbereit ist, den „Toffes 4“ (Formular 4), die Bestätigung, dass die Wohnung oder das Haus technisch einwandfrei und zum Bezug bereit sei, abgibt. Ohne diesen Toffes 4 läuft nichts und der arglose Käufer darf nicht einziehen, bis er ausgestellt ist. Architekten und Bauherren geraten gelegentlich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs, wenn der zuständige Beamte gerade bei seiner Teepause oder gar aus irgendwelchem Grund nicht zur Arbeit erschienen ist. Denn kompetente oder überhaupt eine Vertretung eines nicht anwesenden Beamten, das habe ich inzwischen herausgefunden, gibt es offenbar und besonders in staatlichen Ämtern nicht. Aber, wie gesagt, freundlich sind sie und sie tun ihren Job, vor allem wenn sie zur Arbeit erscheinen. Die Büros der „Wa’ada“ bestehen aus Wänden voller Gestelle, überquellend mit Ordern, Tablare überladen mit Ordnern und unzähligen Kartonschachteln auf dem Boden, noch überquellender mit Ordnern und Dossiers. In jeden dieser Zimmer sitzen zwei oder drei Damen mittleren Alters, meist mit fülliger Figur in umgekehrter S-Form (siehe Bild) und mehrheitlich gutes Hebräisch mit russischem Akzent sprechend. Die „Wa’ada“ ist das einzige Amt, in dem ich nichts zu bezahlen hatte.

Jedem, dem ich von der „Wa’ada“ erzählte lachte lauthals, alle kennen dieses Amt aus eigener Erfahrung und alle hatten sich schon über die langsamen, komplizierten und grossenteils zum Selbstzweck gewordenen bürokratischen Abläufe geärgert, sind gelegentlich sogar darüber verzweifelt, haben Schreikrämpfe gekriegt - doch sie können im Nachhinein darüber lachen.

Im Übrigen bitte ich die Qualität der Fotos zu entschuldigen. Diese diskreten Telefonkameras sind halt doch nicht das Gelbe vom Ei.